Raider Nation - Profi-Football-Taufe mit Folgen
Die Athleten tragen eine seltsame Uniform: überdimensionale Schulterpolster, Helme mit Stahlgittern vorm Gesicht und Stretchhosen mit Genitalschutz, der die Männlichkeit hervorhebt. Sie rennen aufeinander zu, fallen übereinander her, raufen sich um einen eiförmigen Lederball; Schultern krachen gegen Schultern und Köpfe, Hände grapschen, Beine verschlingen sich umeinander; sie türmen sich in große Haufen übereinander, begraben das Lederei, Gegner und Mannschaftskameraden unter sich bis ein in schwarz-weißen Sträflingsstreifen gekleideter Schiedsrichter sie trennt. Sekunden später beginnt das Spektakel von vorne - das ist Football. Es war ein riesiges Rätsel für mich als ich vor fast zehn Jahren in die USA kam.
Heute drücke ich mit aller Kraft die Daumen, dass Los Angeles endlich wieder ein Profi-Football-Team bekommt, damit ich im Stadion eine Horde wild gewordener Männer in hautengen Hosen anfeuern kann. Wie es zu dieser Kehrtwende kam?
Erstens bin ich mit einem Über-Fan verheiratet. Während der NFL-Saison finde ich ihn sonntags zuverlässig auf dem Sofa vor dem Fernseher, die Tippliste der Bürowetten vor ihm auf dem Couchtisch liegend. Ich konnte gar nicht anders als NFL-Regeln und -Strategien zu lernen: von Touchdown und Extrapunkt zu Pass-Interference und Nickel Defense!
Doch die wahre Wende kam mit der genialen Idees des Über-Fan-Ehemanns, unseren zehntägigen Jahresurlaub rund um ein Football-Spiel im Norden Kaliforniens zu organisieren: Oakland Raiders gegen Pittsburg Steelers in Oakland. Oakland ist die andere Seite der San Francisco Bay - arm, rauh, dreckig und kriminell im Vergleich zur berühmten Schwester. Und voller Herz. Raiders-Fans haben den Ruf, extrem engagiert, extrem laut, rauh und extrem betrunken zu sein. Sie haben seit Ewigkeiten keinen wichtigen Erfolg mehr gefeiert. Beste Voraussetzungen für meine perfekte NFL-Taufe, wusste der Ehemann. Schließlich hatte er bei einem Berlin-Besuch erlebt, wie Hertha-Fans schon in der U-Bahn auf dem Weg zum Stadion mit Bierdosen in der Hand Hymnen grölten und wie ich trotz der schlechten Vorstellung des Heimteams bis zum Schluß in Hertha-Gesänge einstimmte.
Zum Raiders-Spiel stattete er mich aus in den Team-Farben - schwarz-silber: T-Shirt, Federn im Haar und Plastik-Perlenkette. Auf dem Parkplatz kamen schwarze Striche auf den Wangenknochen dazu. Fans merkten trotzdem schnell, dass es mein erstes NFL-Spiel war. Als sie hörten, dass ich aus Deutschland bin, lud uns sofort eine wilde Truppe zum Tailgating ein - stundenlanges Grillen, Essen, Trinken und Grölen vor dem Stadion. Drinnen fanden wir gleich neuen herzlichen Anschluss zwischen leicht furchteinflössenden Fans: manche sahen aus, als seien sie einem Apokalypse-Film entstiegen mit ihrer silber-schwarzen Kriegsbemalung, Extrem-Mohawks, mit Nieten besetzten Lederjacken, Masken und Armeestiefeln. "Raider-Nation! Raider Nation!" rief die rauhe Stimme meiner Sitznachbarin abwechselnd mit derbsten Flüchen gegen eine Frau im Pittsburg-Trikot hinter uns. Sie holte mindestens je sechs Bier für sich und ihre Freundin, deren Hand und Knie sie zwischen Gesang und Fluchen zärtlich streichelte.
Wir haben dem Team Glück gebracht: der erste Sieg der Saison nach einem sensationell spannenden Spiel. "Raider Nation" und "Go Raiders" hallte es bis zum frühen Morgen vom Flur, der Straße und dem Parkplatz in unser Hotelzimmer. Grossartig!
Und deshalb hoffe ich, dass ein Profi-Football-Team nach Los Angeles kommt.
Ich werde sofort Tickets, T-Shirts, Federn und Perlenketten kaufen; auf dem Parkplatz vor dem Spiel grillen, Bier trinken und schwarze Striche auf meine Wangenknochen malen; im Stadion mein Team anfeuern bis ich heiser bin und wieder etwas mehr in meiner neuen Heimat angekommen sein.